Etienne-Jules Marey und Duchamp
Gespräch von Marcel Duchamp mit dem französischen Kunstkritiker, Journalisten und Schriftsteller Pierre Cabanne – Paris, Belfond, 1967, Neuauflage Somogy, 1995.
Zu „Akt, eine Treppe herabsteigend“:
Pierre Cabanne: In „Akt, eine Treppe herabsteigend“, lässt sich da wirklich kein Einfluss des Kinos feststellen?
Marcel Duchamp: Doch, natürlich. Das ist die Sache von Marey…
Pierre Cabanne: Die Chronofotografie?
Marcel Duchamp: Ja, ich habe in einer Illustration in einem Buch von Marey gesehen, wie er bei Menschen die fechten, oder bei Pferden im Galopp mit einem System von Strichen verschiedene Bewegungen abgrenzt. […] Das gab mir die Idee zu „Akt, eine Treppe herabsteigend“.
Über dieses Werk, das direkt von Marey beeinflusst wurde, schrieb Duchamp:
„Diese endgültige Version von „Akt, eine Treppe herabsteigend“, gemalt im Januar 1912, ist die geistige Verbindung vieler Interessen, darunter das Kino, noch in den Kinderschuhen, die Aufgliederung von statischen Positionen in der Chronofotografie von Marey in Frankreich, von Eakins und Muybridge in Amerika.
Gemalt, so wie er jetzt ist, in dumpfen Holzfarben, existiert der anatomische Akt nicht oder kann zumindest nicht gesehen werden. Denn ich habe vollständig auf die natürliche Erscheinungsform eines Aktes verzichtet, indem ich nur diese 20 unterschiedlichen statischen Positionen des Herabsteigens in aufeinanderfolgenden Szenen dargestellt habe.
Bevor ich das Gemälde 1913 der „Armory Show“ in New York präsentiert habe, hatte ich es im Februar 1912 an den Salon „Indépendants de Paris“ geschickt. Aber meine Künstlerfreunde mochten es nicht und baten mich darum, wenigstens den Titel zu ändern. Aber anstelle einer Änderung nahm ich es zurück und stellte es im Oktober des gleichen Jahres im „Salon de la Section d’Or“ aus, dieses Mal ohne Widerspruch.
[…]
Ich fühlte mich eher als Kubist denn als Futurist im Angesicht der Abstraktion von „Akt, eine Treppe herabsteigend“: Die allgemeine Erscheinungsform und die bräunliche Färbung des Bildes sind klar kubistisch, auch wenn der Umgang mit der Bewegung einige futuristische Anklänge hat.“
Der Akt ist eine kodifizierte Repräsentation, die gewissen Kriterien folgt. Nun posiert der Akt hier aber nicht, sondern wird als bildliche Darstellung einer Bewegung gezeigt. Dadurch entsteht ein Bruch mit den Grundlagen des klassischen Akts. Dieses Gemälde weist nämlich auf die Grundsätze des kubistischen Aktes hin, indem es sich etwas von diesem entfernt.
Tatsächlich findet man in ihm Kompositionen, Formen, den Willen, die Geometrie und die Figuren zu schätzen, zwei Erscheinungsformen der gleichen Figur im Raum. Eine Sache ist allerdings unerwartet: Es gibt eine gewisse Dynamik, obwohl die Kubisten die starre Form priesen. Das Gemälde stellt daher in gewisser Hinsicht eine Anfechtung des Kubismus dar. Dieser Wille, die Bewegung zu erfassen, verweist auf den Futurismus (in Italien im Kreise des Poeten Marinetti entstanden) und wird einer der ersten Brüche in der modernen Ästhetik sein, die Duchamp herbeiführen will.
Dieses Werk von Duchamp scheint gleichzeitig den Futurismus herauszufordern. Denn dieser sah im „Manifeste technique de la peinture futuriste“ (technisches Manifest der futuristischen Malerei) aus dem Jahr 1910 „das Verbot des Aktes in der Malerei für 10 Jahre“ vor.
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