Maurice Emmanuel und Etienne-Jules Marey
Sie waren Freunde und Geistesverwandte im Kampf für eine neue Sensibilität in der Musik und in der Kunst.
Es mag verblüffend erscheinen, dass Maurice Emmanuel (1862-1938) seine
außergewöhnliche Karriere am Conservatoire national in Paris in gewisser
Hinsicht Etienne-Jules Marey verdankt, und dennoch…
Die ersten Worte von Maurice Emmanuels Habilitation, die er 1896 an der
Sorbonne verteidigte, drücken seine Verbundenheit mit Etienne-Jules
Marey aus: „Ohne die Hilfe von Doktor Marey, Professor am Collège de
France , […] hätte ich die antiken Bilder nicht auswerten können, die
die Grundlage für meine Forschung bilden. Doktor Marey hat mir nämlich
seine hochmodernen Geräte zur Verfügung gestellt, und dank seines
Entgegenkommens besitze ich die Bilderserien, auf die sich die meisten
meiner Interpretationen stützen.“
Nach einer Schulzeit im humanistischen Zweig des Collège Monge in Beaune
wird Maurice Emmanuel nach einem Doppelabitur in Natur- und
Geisteswissenschaften ins Conservatoire de Musique in Paris 1880
aufgenommen. Ab 1882 belegt er dort das Fach Komposition bei Léo
Delibes, der ihn aber entmutigt, seinen eigenen Weg fortzusetzen, und
von ihm sogar verlangt, auf eine Kandidatur für den „Prix de Rome“ zu
verzichten: „Mein lieber Junge, solange Sie derartige Musik schreiben,
können Sie zu Hause bleiben!“ Nach einer Prüfung am Konservatorium
schreibt er an seine Eltern (22. Juni 1889): „Ich verlasse die Prüfung
wütend, hochaufgeregt, innerlich kochend […] Ich sehe nun klar und
deutlich: mir bleibt nichts anderes übrig als einen literarischen Weg zu
beschreiten. Und wenn Gott mir ein langes Leben schenkt, wird die Musik
mich für das Opfer belohnen, das ich nun gezwungen bin ihr zu bringen.“
Parallel zu seinem Musikstudium schreibt er sich für das Studium der
Philologie und der Kunstgeschichte an der „Ecole du Louvre“ und an der
Sorbonne ein. Maurice Emmanuel verteidigt seine Habilitation mit dem
Titel „Der antike griechische Tanz“; er hatte neun Jahre daran
gearbeitet und sich erst im Herbst 1892 dazu entschieden, über Louis
Havet (1849-1925), Professor am Collège de France und prominenter
Latinist, Kontakt zu Etienne-Jules Marey aufzunehmen. Marey lebte damals
in Neapel, antwortete doch dem jungen Mann, der seine Freude nicht mehr
zurückhalten konnte und an seine Mutter schrieb: „Marey hat mir einen
reizenden Brief geschrieben, in dem er mich ‚lieber Herr’ und ‚lieber
Landsmann’ nennt…“ Anschließend, am 21. Dezember 1892, kündigt er seinen
Eltern gegenüber an: „Ich werde meine Fotos im Mai oder Juni machen. Es
wird meine Arbeit nicht im Geringsten verzögern, weil ich in Kürze die
Tänzer sehen werde.“ So drehte er einen „Film“, der eine Analyse und
eine Synthese der Bewegungen antiker griechischer Tänzer ermöglichte
(anhand der Figuren der Vasen und Plastiken), in den Emmanuel auch die
Bewegungen der klassischen Tänzer der Pariser Oper zum Vergleich
einbezog. Damit erregte er ein großes Aufsehen – auch über die Grenzen
Frankreichs hinaus – und beeinflusste die spätere Entwicklung der
Tanzkunst.
Obgleich eine Generation Marey und Emmanuel trennte, entstand zwischen
dem Älteren und dem Jüngeren eine Verständigung dank der gleichen
anspruchsvollen Arbeitsmethoden: beide förderten auf ihre eigene Art
einen wissenschaftlichen Fortschritt. Es ging so weit, dass
Etienne-Jules Marey dann zweimal versuchte – leider ohne Erfolg – für
Maurice Emmanuel einen Lehrstuhl für Musikgeschichte am Collège de
France zu schaffen. Er half ihm aber doch eine Stelle als Lehrer der
Kunstgeschichte an einem Mädchengymnasium in Paris zu erhalten. Bis der
Musiker 1904 zum Kapellmeister an der Basilique Sainte-Clotilde und 1909
zum Professor für Musikgeschichte am Conservatoire de Paris ernannt
wurde…
Nach Josette Ueberschlag
Cimeos – Universität von Burgund
Quellen :
- Christophe CORBIER, Maurice EMMANUEL, coll. Horizons, Paris, bleu nuit éditeur, 2007, 176 Seiten.
- Maurice Emmanuel et son temps (1862-1938) : lettres inédites.
Einleitung und Anmerkungen von Frank EMMANUEL in Revue Internationale de
Musique Française, 11. Juni 1983.
- Briefe von Maurice Emmanuel an seine Eltern : Privatarchiv von Anne Eichner-Emmanuel.
- François CALLAIS, Maurice EMMANUEL et le pays beaunois, brochure
SAÔNORA, Centre culturel de Mâcon, 1988 (zum 50. Todestag des
Komponisten).
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